Dem Bauchgefühl vertraut

10/28/2021

Toronto Island Skyline Kanada Annerschtwo
Toronto Island Skyline Kanada Annerschtwo

Januar 2020 – Noch ein Jahr bis zum Abitur und trotzdem kreisten meine Gedanken nur um die Zeit danach. Der Traum von der großen weiten Welt, die keine Grenzen kennt.

Wie sehr sehnte ich mich nach dem Gefühl, am Flughafen auf mich alleine gestellt zu sein, einfach in eine für mich neue Welt einzutauchen, in der nur das Hier und Jetzt zählt, in der es keine Rolle spielt, wie viele Freunde man im „normalen“ Leben hat, ob man jedes Wochenende feiern geht oder doch lieber auf der eigenen Couch bleibt, oder mit welchen Problemen auch immer man sonst zu kämpfen hat. Niemand kennt mich, die Zeit ist auf Null gestellt. Die Sehnsucht nach diesem Gefühl ließ mich schnell wissen, dass ich nach der Schule in den Flieger steigen möchte.

Ich war mir darüber so sicher, dass ich eineinhalb Jahre vor Abflug ohne Bedenken mein Auslandsjahr buchte. Sechs Wochen Vancouver Island, dreieinhalb Monate Vancouver Downtown und fünf Monate Costa Rica warteten schon auf mich. Nichts stand meinen Plänen im Weg – dachte ich zumindest. Mit einer globalen Pandemie haben die wenigsten gerechnet. Lange blieb ich optimistisch. Ist ja logisch, dass ich an meinem Traum festhalte?! Gleichzeitig erschien er aber viel unbedeutender. Mir war bewusst, dass Milliarden Menschen viel größere Probleme, zu viele Menschen Existenzängste, hatten; da wollte ich mein Auslandsjahr als unwichtig ansehen. Meine Angst, ich könnte nicht fliegen versus die Millionen Ängste, nicht überleben zu können. Es fühlte sich nicht richtig an, meiner Reise, die mit jedem Monat immer mehr auf der Kippe stand, so sehr hinterher zu trauern. Und doch konnte ich bei jedem Gedanken an die Zeit nach dem Abitur einen kleinen Stich ins Herz spüren, den ich sofort unterdrückte. Die Unwissenheit nervte mich und ich fasste einen klaren Entschluss: Ich fliege nicht. Nicht so. Ich will meine Auslandserfahrung genießen können, das geht während Covid aber nicht. Die Angst, meine jahrelangen Erwartungen an diese Zeit könnten zutiefst enttäuscht werden, übermannte mich. Es war einfacher, alles abzusagen.

Obwohl meine Entscheidung fest stand, war noch nichts storniert. Regelmäßig löschte ich deshalb die Mails, die mich an Flugbuchungen oder die Visum-Beantragung erinnerten. Ich begann, mich währenddessen nach Studiengängen umzusehen, die vielleicht etwas für mich sein könnten. Immer wieder viel mir etwas ins Auge, doch schon am nächsten Tag fragte ich mich, was ich mir dabei gedacht habe, diese Studienrichtung überhaupt in Erwägung zu ziehen. Nun war mein Plan, ein Studium zu beginnen, weil ich das als einzige Option gesehen habe. Doch wollte ich wirklich schon anfangen zu studieren? Kurz nach meinem 19. Geburtstag? Nein.

Auf einmal wurde mir genau das bewusst: Mein Bauchgefühl, das ich Monate lang unterdrückt hatte, machte sich plötzlich lautstark bemerkbar. Innerhalb von fünf Minuten stellte ich alles infrage. Wieso soll ich ein Studium anfangen, wenn ich mich noch gar nicht bereit dazu fühle? Aber viel wichtiger: Wieso gehst du nicht ins Ausland? Wie kommst du auf die Idee, deine jahrelange Vorfreude einfach zu begraben, nur weil es der Weg ist, der auf dich den vernünftigsten und einfachsten Eindruck macht? Warum gibst du so schnell auf?

Toronto 2018 & 2019: Diese Sprachreisen weckten mein Interesse an einem langen Auslandsaufenthalt nach dem Abitur

Namibia Afrika Annerschtwo
Namibia Afrika Annerschtwo

Fernweh nach der großen weiten Welt

Als ich diese Gedanken aussprach, ging mein Puls hoch. Die Verunsicherung, nicht zu wissen, was das Richtige ist, machte mich fertig. Ebenso meine Eltern, die nur kopfschüttelnd dasaßen und anfangs nicht verstanden haben, was in meinem Kopf vorging. Ist ja auch verständlich, ich wusste es ja selbst nicht. Es war schließlich nicht mein Kopf, der durch rationale Abwägungen auf diese Gedanken gekommen ist, sondern mein Bauchgefühl, das sich glücklicherweise doch noch zu Wort gemeldet hat.

Nach relativ kurzer, aber intensiver Zeit voller Überlegungen war für mich klar:

Chiara, geh ins Ausland. Es wird sicher nicht genauso, wie du es dir immer vorgestellt hast, aber heißt anders automatisch immer schlechter? Nein, das tut es nicht. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich ein Jahr später meine Entscheidung bereuen könnte. Mit der Hoffnung, dass drei Monate später die Pandemie-Lage etwas besser sein könnte, entschloss ich mich dazu, die Reise nicht abzusagen, sondern nach hinten zu verschieben. Abflug November und nicht August.

Doch ganz so einfach wollte es dann doch nicht gehen: Vancouver im Winter? Na klar, aber bitte nicht die gesamten vier oder fünf Monate. Kanada lag nun wortwörtlich auf Eis, doch wohin jetzt? Ozeanien hat die Grenzen zu und keiner weiß, wann man wieder einreisen kann. Mehrere Monate USA Ostküste waren irgendwie auch nicht das, was ich mir vorgestellt hatte. Doch dann holten mich die letzten zwei Monate ein, in denen mein Lebensinhalt die Serie „Hawaii 5.0“ war. Hawaii, das wunderschöne Inselparadies mitten im Pazifik und weit weg von sämtlicher Hektik. Und das Wichtigste: tropisches Klima, keine klassischen Jahreszeiten. Von Costa Rica wollte ich mich nicht trennen, zu präsent sind die wunderbaren Erinnerungen an dieses Land aus einem Familienurlaub.

Honolulu und Costa Rica. Das ist der Plan. Zumindest aktuell. Ich weiß nicht, was sich noch ändern wird, ob es plötzlich Einreisestopps gibt oder was auch immer. Aber ich mag dieses Gefühl, nicht genau zu wissen, was mich erwartet. Ja, ich genieße es schon fast. Und ich kann es nur deshalb genießen, weil mein Bauchgefühl mich mehr als deutlich spüren lässt, dass es die richtige Entscheidung ist, alles einfach auf mich zukommen zu lassen. Dass es ganz sicher falsch wäre, meinen Traum an den Nagel zu hängen.

Und so habe ich schlicht und einfach – dem Bauchgefühl vertraut.