Menschen und Reisen

2/15/2023

Granada Alhambra Spanien Sonnenuntergang Annerschtwo
Granada Alhambra Spanien Sonnenuntergang Annerschtwo

Ich sitze gerade im Bus von Paris zurück nach Mannheim. Den Großteil habe ich schon hinter mir, denn ich bin vor mehr als 24 Stunden von Valencia aus meine Heimreise angetreten. Und da reflektiert man natürlich seine Erlebnisse der letzten 17 Tage. Oder zumindest tue ich das. Und eine Sache die mir dabei auffällt? Wenn ich an die letzten Wochen zurückdenke, dann denke ich vor allem an Menschen. An Erlebnisse. Aber nicht in erster Linie an besondere Gebäude oder Museen. Ich habe immer das Gefühl, dass ich auf jeder Reise etwas lernen und dies mit nach Hause nehmen kann. Und das ist zweifellos den Menschen geschuldet, die ich auf meinen Reisen kennenlerne. Mit denen ich erzähle. Mit denen ich vielleicht nur eine Stunde oder auch 4 Tage verbringe. Das kann ganz unterschiedlich sein, aber jede Begegnung ist besonders und einzigartig.

“Wer reist, ohne den anderen zu treffen, der reist nicht, sondern bewegt sich.”

Alexandra David-Néel

Dieses Zitat bringt es auf den Punkt. Reisen bedeutet nicht, möglichst viele Orte, Städte oder Länder in möglichst kurzer Zeit abzuklappern. Oder alle Kontinente besucht zu haben. Reisen bedeutet hinzuschauen. Zu beobachten. Sich Gedanken zu machen. Sich auf Neues einzulassen. Seinen bisherigen Glauben daheim zu lassen. Und ganz besonders: In Interaktion mit anderen Menschen zu treten. Es ist ganz egal, aus welchem Grund diese Menschen an diesem Ort sind. Vielleicht leben sie dort, sind dort geboren oder sind genauso Reisende wie man selbst. Aus jeder Begegnung kann man etwas mitnehmen. Es geht nicht darum, speziell etwas über diesen einen Ort zu lernen. Natürlich gehört es dazu, sich mit Kultur und Geschichte auseinanderzusetzen, wenn man einen fremden Ort dieser Erde besucht. Aber was man an diesem Ort lernt, welche Erfahrungen diesen Ort für einen besonders machen? – Das muss nicht an diesen speziellen Ort gebunden sein.

So habe ich eine junge Frau aus Portugal kennengelernt, die in Frankreich aufgewachsen ist. Zusammen sind wir spontan einen ganzen Tag lang durch Salamanca gelaufen und haben uns die Stadt angesehen. Es war für uns beide der erste Tag in der Stadt, was ganz praktisch war. Salamanca ist eine wunderschöne Stadt. Vor jedem Gebäude hätte ich stehen bleiben können. Aber was mir als allererstes in den Sinn kommt, wenn ich an meinen ersten Tag in dieser Stadt denke? Die Menschen. Bis zu diesem Tag dachte ich, ich hätte immer sehr genau auf das geachtet, was um mich herum passiert. Aber als ich mit der Portugiesin unterwegs war, habe ich realisiert, dass ich das nur halbwegs getan habe. Wie intensiv sie einzelne Menschen beobachtet und angesehen hat – das war faszinierend. Sie war so aufmerksam und ihr Fokus lag zu 100% auf den Menschen in den Straßen. Es war wunderschön anzusehen. Es waren keine besonderen Menschen, denen wir unsere Aufmerksamkeit geschenkt haben. Es waren einfach nur Personen, die durch Zufall unser Blickfeld gekreuzt haben. Ich erinnere mich an 3 alte Herren, die vor uns liefen. Sie waren in ihren 70ern oder 80ern und haben noch ihre gefaltete Zeitung in den Händen getragen. Die Hüte durften natürlich auch nicht fehlen. Es war ein solch friedlicher Anblick. Ich habe mir überlegt, wie lange sie sich wohl schon kennen und seit wie vielen Jahrzehnten sie gemeinsam zu dieser bestimmten Tageszeit durch die Gassen von Salamanca schlendern. Das sind natürlich alles Dinge, die sich mein Kopf dazu überlegt. Nichts davon weiß ich wirklich. Vielleicht haben sie sich auch letzte Woche erst kennengelernt und sich auf Anhieb so gut verstanden, dass man als außenstehende Person meinen könnte, dass sie seit ihrer Jugend die besten Freunde sind. Ich weiß es nicht, aber allein sich zu den einzelnen Personen Geschichten zu überlegen ist wunderschön.

Salamanca Spanien Backpacking Annerschtwo
Salamanca Spanien Backpacking Annerschtwo

Am meisten lernt man etwas über einen Ort, wenn man die Menschen anschaut. Das habe ich in Salamanca gelernt. Von einem anderen Menschen. Seit diesem Tag sehe ich mir eine Stadt anders an. Natürlich betrachte ich auch die Gebäude, Geschäfte und sonstige Dinge, die für eine Stadt typisch sind. Aber was eine Stadt wirklich einzigartig macht, was sich nicht austauschen lässt – das sind die Menschen. Man findet Schönheit in so vielen kleinen Dingen, dass man dafür gar nicht unbedingt die Top 10 Sehenswürdigkeiten einer Stadt für braucht.

Doch dafür muss man vielleicht seinen ursprünglichen Plan bei Seite legen und gewisse Dinge einfach auf sich zukommen lassen.

Schalte Google Maps aus, du brauchst deine Route zum nächsten Highlight nicht. Stecke dein Handy ein und schau dich einfach nur um. Und vertrau mir, zu den bekanntesten und sehenswertesten Orten einer Stadt kommt man sowieso. Dann tut sich vor einem ganz unerwartet eine riesige Kathedrale auf und man erkennt die Bilder aus dem Internet oder dem Reiseführer und weiß, was es mit diesem Gebäude auf sich hat. So nimmt man die Umgebung und vor allem die Menschen, die einem auf dem Weg entgegenkommen, viel intensiver wahr. So taucht man wirklich in einen anderen Ort ein.

Menschen wahrzunehmen und zu beobachten ist der eine Teil – mit Menschen in Kontakt treten der andere. Zuhause in seinem Alltag ist man größtenteils von den gleichen Menschen umgeben. Oft sind es Menschen derselben Altersgruppe oder desselben Studiengangs. Es existiert diese Bubble an Menschen, die man nur selten verlässt. Das ist ja nichts Schlechtes. Die Menschen, die Teil des eigenen Lebens sind, haben diesen Platz zurecht und das bleibt auch so. Aber manchmal ist es notwendig, sich mit neuen Menschen auszutauschen, um eine Idee von anderen Perspektiven oder Ansichten zu bekommen. Das Einzige, das man mit Menschen, die man auf Reisen trifft, gemeinsam hat, ist das Reisen. Das ist definitiv keine kleine Gemeinsamkeit. Es gibt unfassbar viele Gemeinsamkeiten unter Reisenden. Menschen, die reisen, sind meistens sehr weltoffen, oft kulturell interessiert, abenteuerlustig und so weiter. Aber in den Hintergründen unterscheiden sie sich. Was verschlägt jemanden an genau diesen Ort? Woran ist diese Person interessiert? Wofür lässt sie sich begeistern? Was hat sie für einschlägige Erfahrungen in ihrem Leben gemacht? Wie alt ist sie? Arbeitet sie? Studiert sie? Hat sie überhaupt einen Alltag oder einen festen Wohnsitz?

Salamanca

Valencia Cantagua Hostel Solo Backpacking Annerschtwo
Valencia Cantagua Hostel Solo Backpacking Annerschtwo

Bisher war ich mit 20 Jahren meistens die Jüngste unter den Leuten in Hostels. Ich komme also in Kontakt mit Menschen einer Altersgruppe, mit denen ich sonst nur wenige Berührungspunkte habe. Ab einem gewissen Alter machen Altersunterschiede nichts mehr aus. Das merke ich sowohl bei meinen Geschwistern (die 4 Jahre Unterschied sind irgendwie geschrumpft), als auch bei Begegnungen auf Reisen. Gerade, wenn man in irgendwelche Gruppen von Menschen quasi herein stolpert, weil man die einzige „neue“ Person ist, und somit der Small Talk übersprungen wird, kommt oft erst spät oder manchmal auch gar nicht die Frage, wie alt man denn eigentlich sei. Und auch, wenn Altersunterschied keine Hürde auf Reisen darstellt, dann gibt es doch diesen einen riesigen Unterschied: Diese Menschen haben 3 bis 15 Jahre länger gelebt als ich. Haben teilweise schon fertig studiert. Mehrere Jahre gearbeitet. Sind unglaublich viel herumgekommen.

Ich habe das Gefühl, dass gerade die junge Bevölkerung oft unter Druck gesetzt wird. Zumindest fühlt es sich so an. Noch nicht mal Abitur geschrieben und kaum wird man gefragt, was man denn studieren will. Und kann man diese Frage sogar schon beantworten, dass geht es direkt weiter mit der Frage, welcher Beruf denn diesem Studiengang folgt. Ich mit meinem Studiengang Politikwissenschaften bin hier natürlich absolute Expertin und habe mittlerweile meine Standardantwort. Nein, das heißt nicht, dass ich Politikerin werden möchte. Nein, es steht kein fester Beruf hinter diesem Studium. Nein, ich habe nicht die geringste Ahnung, in welchem Beruf ich mich sehen könnte. Und das ist auch gut so.

Ich bin ehrlich, ich will gar nicht wissen, was ich den Rest meines Lebens machen werde. Aber egal, darum geht es nicht. Ich habe das Gefühl, dass immer nur nach „danach“ gefragt wird. Aber was ist mit dem Jetzt? Ich studiere nicht, um danach einen bestimmten Beruf auszuüben. Ich studiere, um zu lernen. Um mich zu bilden. Um mich mit dem auseinanderzusetzen, was mich interessiert. Und zwar jetzt.

Valencia Strand Solo Backpacking Annerschtwo
Valencia Strand Solo Backpacking Annerschtwo

Wenn ich von Menschen anderer Altersgruppen umgeben bin, vergesse ich diesen „Druck“. Ich sehe, wie unterschiedlich man sein Leben gestalten kann. Dass es nicht den einen Lebensweg gibt, dem man folgen muss. Dass man mit 30 Jahren nicht alt ist, sondern dass einem auch dann noch alle Möglichkeiten offen stehen. Dass man seinen Job kündigen kann, wenn man nicht mehr glücklich ist. Diese Erkenntnisse lassen mich Freude verspüren, wenn ich an mein zukünftiges Leben denke. Weil ich weiß, dass es unendlich viele Optionen gibt, mein Leben zu gestalten. Diese Geschichten, wie Menschen zu ihrem jetzigen Beruf oder generell zu dem Punkt an ihrem Leben gekommen sind, an dem sie jetzt gerade stehen, fühlen sich so befreiend und inspirierend an. Es öffnet mir die Augen.

Um diese Geschichten zu hören, muss man manchmal seinen Alltag hinter sich lassen und sich neuen Menschen gegenüber öffnen. Und das zahlt sich aus.

Das Jetzt spüren und nicht immer an das Danach denken.

Es gibt natürlich eine ganze Reihe weiterer Möglichkeiten, dies zu tun. Dafür muss man nicht unbedingt (alleine) reisen. Ich kann nur von meinen Erfahrungen sprechen: Mir fällt es beim Reisen mit Abstand am einfachsten, mit neuen Menschen ins Gespräch zu kommen. Ich habe kein Problem damit, Leute anzusprechen. Egal, ob im Hostel oder bei einer Free Walking Tour in der Stadt. Dass es eine gewisse Eigeninitiative braucht, ist denke ich selbstverständlich. Oder dass man zumindest antwortet, wenn man angesprochen wird. Aber man landet so schnell in den tiefsten Gesprächen, hat ganz normale Konversationen über Gott und die Welt oder tauscht sich über unterschiedliche Erfahrungen aus, sodass ich immer sage: Das Paradoxe am allein Reisen ist, dass man nie alleine ist.

Valencia Hostel Annerschtwo
Valencia Hostel Annerschtwo

Menschen in Valencia, die zu Freunden wurden

Die Menschen fliegen einem schon fast zu. Gut, wenn man mit 10 anderen Leuten in einem Schlafsaal schläft, ist das irgendwie logisch. Man lernt Menschen kennen, mit denen man sich im Alltag vielleicht nie unterhalten hätte, selbst wenn man sich begegnet wäre. Und das finde ich das Spannendste. Man realisiert, dass die Welt viel größer ist als die eigene kleine Bubble, in der man sich in seinem Alltag bewegt. Man führt Gespräche, die man sonst vielleicht nicht geführt hätte. Niemand kennt das Umfeld des anderen. Und was ebenso eine Rolle spielt: Die meisten Menschen trifft man vermutlich nie wieder.

Das ist nicht einfach. So viele neue Leute, mit denen man sich super versteht, aber alle wissen schon währenddessen, dass es nach ein oder zwei Tagen auch wieder vorbei ist. Irgendwann wird das anstrengend. Die soziale Batterie hat ihre Grenzen. Aber auf der anderen Seite, so kommt es mir zumindest vor, überspringt man ganz oft die Small Talk Phase und hat direkt super offene Gespräche. Und dass man sich mehr öffnet, wenn man weiß, dass man diese Person wahrscheinlich nie wieder sieht, ist denke ich auch nachvollziehbar.

Granada Spanien Sonnenuntergang Backpacking Annershtwo
Granada Spanien Sonnenuntergang Backpacking Annershtwo

Sonnenuntergänge – Perfekt, um besondere Begegnungen vom Tag Revue passieren zu lassen

Ich habe größtenteils über Begegnungen mit Menschen gesprochen, die ebenso Reisende sind. Schön ist es natürlich auch, mit Locals in Kontakt zu kommen, denn da lernt man den Ort nochmal ganz anders kennen. Was mir aber wichtig ist zu sagen: Egal, wo du bist, spreche Menschen an. Unterhalte dich mit ihnen. Unabhängig davon, ob die Person an diesem Ort der Welt lebt oder ob sie reist – du wirst etwas lernen. Viel über dich selbst, viel über andere, viel über die Welt. Du wirst vielleicht die ein oder andere Sichtweise in deinem Leben hinterfragen. Oder Dinge mehr zu schätzen lernen. Schlichtweg: Du wirst bereichert. Und das ist genau das, was Reisen für mich ausmacht.

Um Alexandra David-Néel aufzugreifen: Wenn man nicht in den Kontakt mit anderen Menschen tritt, bewegt man sich. Doch mit Reisen hat das nichts zu tun.