Reisen und Nachhaltigkeit - (k)ein schlechtes Gewissen?
4/1/2022
Bei keinem Blogbeitrag fiel es mir so schwer, einen Anfang zu finden. Das ist der vierte Versuch, den ich starte. Mal sehen, ob es diesmal der letzte ist oder ob ich auch diese Zeilen in einer halben Stunde wieder löschen werde? Aber wieso fällt es mir so schwer, die richtigen Worte zu finden? Warum lasse ich es nicht einfach sein, wenn ich anscheinend über jedes einzelne Wort nachdenken muss und mir es nicht leicht von den Fingern geht? Warum schreibe ich nicht über ein anderes Thema?
Die Antwort ist relativ simpel: Weil es mir wichtig ist, meine Gedanken dazu zu teilen. Doch ich weiß auch, dass das nicht einfach ist. Bei wenigen Themen ist das Eis (im wörtlichen Sinne) so dünn, gibt es so viel Emotionalität, so viele unterschiedliche Meinungen und vor allem so viel moralisierendes „Fingerzeigen“, das sachliche Diskussionen erschwert. Aber worüber spreche ich überhaupt?
Ich rede von Nachhaltigkeit, von CO2-Emissionen, von der globalen Erderwärmung – um es in einem Wort zusammenzufassen – ich rede vom Klimawandel.
Um es gleich vorweg zu nehmen: Ich möchte mich mit diesem Artikel nicht rechtfertigen. Ich möchte nichts schönreden. Oder mich gar herausreden. Und ich werde erst recht keine fachliche fundierte, pseudo-wissenschaftliche Betrachtung verfassen, denn ich bin keine Nachhaltigkeitsexpertin. Ich würde einfach nur gerne meine Gedanken zum Thema „Reisen und Nachhaltigkeit“ teilen und erklären, wie ich für so lange Zeit reisen kann, ohne dass mich täglich ein schlechtes Gewissen plagt.
Mal Pais, Costa Rica
Du musst nicht mit allem übereinstimmen, was ich schreibe, aber vielleicht kannst du ja ein paar Gedankengänge nachvollziehen.
Aber gut, ich fange einfach mal an: Ich muss gar nicht lange drumherumreden. Dass ich in den letzten 8 Monaten viel geflogen bin, ist kein Geheimnis. Ich war 4,5 Monate auf Hawai‘i, nun bin ich 4,5 Monate in Mittelamerika – alleine, um diese Orte zu erreichen, muss man mit dem Flugzeug tausende Kilometer zurücklegen.
Hinzu kommen Kurzstreckenflüge zu den anderen Hawaiianischen Inseln oder nach Guatemala; Ja, diese Flugzeiten sind nicht lange, aber es sind und bleiben Flüge, die sich ebenfalls summieren. Natürlich fühle ich mich schlecht, wenn ich das so herunterschreibe. Würde jeder Mensch auf der Erde genauso leben, dann gäbe es die Erde vielleicht gar nicht mehr, ich weiß es nicht. Und das ist mir bewusst. Also, wie kann ich mir selbst im Spiegel in die Augen blicken, ohne dass mich mein schlechtes Gewissen auffrisst?
Ich glaube ein wichtiger Schritt ist, dass mir bewusst ist, was ich tue. Nicht, dass es das direkt besser machen würde. Aber ich verdränge zumindest nicht den Fakt, dass mein biologischer Fußabdruck in dieser Hinsicht meilenweit über dem Durchschnitt oder einem Optimalwert liegt, sondern setze mich stattdessen damit auseinander.
Ich kann auch nicht behaupten, dass ich für die Flüge „nichts kann“, weil man anders eben nicht nach Hawai‘i oder Costa Rica kommt – ich hätte mir schlicht und einfach andere Destinationen aussuchen können. Doch warum es mir so wichtig war, nicht in Europa zu bleiben und wieso ich mich dazu entschieden habe, so weit weg zu fliegen, kannst du hier nachlesen. Dort habe ich (hoffentlich verständlich) erklärt, wieso ich nicht nach England oder Spanien gereist bin.
Granada, Nicaragua
Für mich persönlich macht es einen Unterschied, ob ich einen Urlaub oder eine Reise mache.
Für einen reinen Strandurlaub muss ich nicht nach Hawai‘i fliegen, und erst recht nicht für nur zwei Wochen. Da kann ich mich genauso gut in Italien, Griechenland oder Spanien ans Meer legen. Das ist für mich Urlaub. Entspannung. Auszeit.
Doch was ist dann eine Reise für mich? Reisen bedeutet für mich, auch über den Tellerrand zu blicken, den Strand von Waikiki einmal zu verlassen und ins Inselinnere zu sehen, mich mit einer Kultur auseinandersetzen, mit Locals in Kontakt zu kommen, und dabei: Zu Lernen.
„Die beste Bildung findet ein gescheiter Mensch auf Reisen“. Das ist Johann Wolfang von Goethes Meinung über das Reisen – und eines meiner zwei absoluten Lieblingszitate. Und ich glaube zu wissen, was er damit meint. Reisen ist Bildung. Man lernt durch Erlebnisse. Durch Erfahrungen, die man in seinem gewohnten Umfeld sonst nicht machen könnte. Wenn ich eine Liste von all den Momenten machen würde, in denen mir die Augen geöffnet worden sind, wäre sie seitenlang. Ein Ereignis, das bisher das vermutlich prägendste für mich darstellt, war in Nicaragua. In dieser Woche Backpacking habe ich verdammt viel gelernt. Besonders in der Stadt León. Ich habe an einer Stadtführung teilgenommen, in der uns ein Local die Stadt gezeigt hat und dabei auch viel auf die Geschichte des Landes eingegangen ist. Durch das große Interesse der gesamten Gruppe wurden aus den eigentlich geplanten 2 Stunden 4 Stunden Führung – und damit auch sehr viel Input. Das Ende der Tour werde ich nie vergessen:
León, Nicaragua: An diesem Ort voller beeindruckender und aussagekräftiger Street Art startet die beste, bedrückendste und einprägsamste Free Walking Tour, an der ich je teilgenommen habe.
> Wir sind in einer Art Garten, außer uns ist hier fast niemand. Unser Guide bittet uns darum, so nah wie möglich aneinander zu rücken und einen kleinen Kreis zu bilden. Wir machen was er sagt. Er beginnt, über die Politik zu sprechen. Über das politische System in Nicaragua und die aktuelle Situation. Und von der ersten Sekunde an habe ich Gänsehaut. Mir wird bewusst, welch Privileg es ist, in einer Demokratie aufgewachsen zu sein und leben zu dürfen. In Nicaragua herrscht Diktatur. Eine solche Diktatur, in der du im Gefängnis landest, wenn du dich gegen die Regierung aussprichst. Wenn du behauptest, dass die Regierung korrupt ist. Sprich: Wenn du die Wahrheit sagst. Ich sehe unseren Guide an und erkenne die Angst in seinen Augen. Er fordert uns dazu auf, ihn sofort zu unterbrechen, sobald eine Person auch in großer Distanz an uns vorbeiläuft. Es ist gefährlich für ihn, doch er sieht es als seine Aufgabe und Verantwortung, uns auch diese Seite von Nicaragua zu zeigen. Ich fühle mich, als wäre ich in Deutschland in den 1940er. Wir behandeln dies im Geschichtsunterricht, doch hier ist es Gegenwart. Läuft man als Tourist durch die Straßen, sieht man diese Seite nicht sofort. Man erblickt fröhliche Menschen, bunte Häuser. Und auch der Grenzübergang wirkt “normal”. Man merkt nicht im geringsten, dass man von einer Demokratie in Costa Rica in eine Diktatur in Nicaragua kommt. <
Alles, was ich im Vorfeld meiner Reise über Korruption, über andere politische Systeme, über eingeschränkte Menschenrechte gehört hatte, wurde plötzlich real. Es war Realität – zum Anfassen. Es war ein so einschneidendes Erlebnis, das kann man nur in dem Land selbst erfahren. Und diese Erfahrung hat mich unglaublich viel gelehrt. Ich habe gelernt, wie sehr man für Demokratie kämpfen muss, um sie zu erhalten. Ich habe gelernt, wie viel Wert persönliche Freiheiten haben. Ich habe gelernt, dass Polizei nicht automatisch auch Sicherheit bedeuten muss.
Momente wie diese werde ich nie vergessen – im Gegenteil, ich werde sie mit nach Deutschland nehmen. Sie werden sich auf meinen Alltag in Deutschland auswirken.
Über den Dächern Leóns
Reisen bedeutet für mich Bildung, weil ich mehr Verständnis erlangen kann. Verständnis für unsere Welt, in der alles zusammenhängt. Um 2 Wochen in einem All-Inklusive-Resort zu sitzen, muss ich nicht bis nach Hawai‘i fliegen. Das könnte ich nicht mit mir selbst ausmachen. (Okay, ich würde auch in Deutschland keinen Urlaub in einem All-Inklusive- Hotel verbringen, aber das ist ein anderes Thema haha.) Waikiki ist das perfekte Beispiel dafür. Waikiki ist nur ein so kleiner Teil von Hawai‘i, von Honolulu, doch die meisten Touristen verlassen diesen „Stadtteil“ erst gar nicht. Hier wirkt alles perfekt.
Louis Vuitton neben Dior. Das Moana Surfrider Resort neben dem Hilton Hotel. Luxus über Luxus. Dass das nicht das „echte“ Hawai‘i ist, kann man sich bei dieser Beschreibung schon denken. Den wenigsten fällt auf, dass die Armlehnen, die die Sitzbänke in drei einzelne Sitze unterteilen, nicht ohne Grund angebracht worden sind – Nein, sie sollen verhindern, dass Obdachlose auf diesen Bänken schlafen können. Man möchte die Fassade für die Touristen aufrechterhalten und ihnen einen Strandurlaub ohne Makel ermöglichen. Nun ja, alles schön und gut, doch mit Realität und Authentizität hat das wenig zu tun.
Aus meiner Zeit auf Hawai‘i konnte ich unheimlich viel mitnehmen. Ich habe die schwierige soziale Situation gesehen und verstehe nun besser, wie es dazu kommt. Ich habe von einem Hawaiianer surfen gelernt, der mir so viel mehr beibringen konnte, als den Sport an sich. Es ist die Kultur. Die Verbindung zwischen Mensch und Natur. Und auch diese Erkenntnisse werde ich mit nach Hause nehmen und in mir tragen.
Kaua'i, Hawai'i
All das lindert nicht die CO2-Emissionen, die ich durch die Flüge verursache, aber es ergibt sich ein Abwägen. Denn es gibt nicht nur den Klimawandel. Es gibt so viele globale Probleme, die wir alle bekämpfen müssen. Ob das Rassismus, Sexismus oder politische Konflikte sind – wir haben viele Probleme auf dieser Welt, denen wir uns stellen müssen. Und da ist der globale Austausch unverzichtbar. Durch Reisen wächst das Verständnis für andere Kulturen. Es wächst die Akzeptanz. Und diese überträgt man auf das Leben in Deutschland.
Man hinterfragt mehr. Macht sich zu gewissen Themen mehr Gedanken und verknüpft sie mit auf Reisen gemachten Erfahrungen. Und diese haben konkrete Auswirkungen auf mein alltägliches Leben.
Als Beispiel: 2019 habe ich das erste Mal Wasserknappheit erlebt. Ich bin mit meiner Familie durch Namibia gereist und wir waren unter anderem an Orten, an denen es vor 7 Jahren das letzte Mal geregnet hat. Wir hatten Wasser zum Duschen, doch das musste mit Eimern aufgefangen werden, um es erneut verwenden zu können. Und seitdem vergeht kein Tag, ohne dass ich unter der Dusche stehe und an diesen Moment zurückdenke. Dass so eine heiße Dusche etwas Schönes ist, das wissen wir alle. Und dass man deshalb gerne auch mal länger als nötig das Wasser laufen lässt, ist auch kein Geheimnis. Doch seit diesem Tag reiße ich mich zusammen und drehe das Wasser ab, wenn ich es nicht mehr benötige. Und somit hat diese Reise, obwohl sie mittlerweile drei Jahre zurückliegt, immer noch einen konkreten Effekt auf mein alltägliches Leben. Und damit auch auf die Umwelt, denn in Bezug auf den Klimawandel spielt der Warmwasserverbrauch eine unfassbar wichtige Rolle (Also ist es doppelt gut, wenn wir jetzt durch die Gasknappheit alle lernen, mit einer kürzeren Dusche auszukommen). Wie gesagt, ich möchte dadurch keine Langstreckenflüge rechtfertigen, sondern einfach zeigen, dass die Emissionen vielleicht auch nicht nur Schwarz-Weiß zu sehen sind.
San Francisco, USA
Mir ist bewusst, dass der hohe CO2-Ausstoß vor allem beim Fliegen ein Problem ist. Und deshalb habe ich mich dazu entschieden, meine Flüge am Ende meines GapYears kompensieren zu lassen. Es gibt verschiedene Anbieter, die aus den geflogenen Kilometern den verursachten CO2-Ausstoß berechnen und diesen dann monetarisieren. Diese ermittelte und von mir dann noch zu spendende Summe fließt dann in Umweltprojekte, beispielsweise zur Aufforstung, um den ausgestoßenen Gasen entgegenzuwirken.
Und ja, natürlich ist es in der Theorie das beste, gleich gar nicht zu fliegen. Doch wenn man sich trotzdem in den Flieger setzt ist es meilenweit besser, im Gegenzug diese Projekte zu unterstützen, als gar nichts zu tun.
Der nächste Punkt ist, wie man sich im Land selbst verhält. Es gibt nicht nur die ökologische, sondern auch die soziale Nachhaltigkeit. Die Menschen hier sind auf den Tourismus angewiesen. Es ist keine Möglichkeit, den Tourismus aus Umweltgründen „abzuschaffen“, denn er stellt oftmals einen enorm großen und wichtigen Wirtschaftssektor für die Länder dar. Gerade während Covid hat man gesehen, zu welchen wirtschaftlichen Problemen ausbleibende Touristen führen können. Klar, so wie Tourismus aktuell in großen Teilen aussieht, kann er nicht bleiben – dazu zählt natürlich in erster Linie der Massentourismus, der umwelttechnisch gravierende Folgen mit sich bringt. Doch deshalb muss man daran arbeiten, den Tourismus nicht zu unterbinden, sondern nachhaltiger zu gestalten. Und in dieser Hinsicht kann jeder einzelne einen Anfang machen, indem man sich an die eigene Nase fasst.
Ein Beispiel: Ich nutze die öffentlichen Transportmittel im Land; Man taucht nicht nur viel besser in die Kultur ein, sondern ist auch nachhaltiger unterwegs. Ich ernähre mich nur vegetarisch und versuche so gut es geht auch auf andere tierische Produkte zu verzichten. Ich achte darauf, lokale Restaurants oder Geschäfte zu unterstützen und keine großen Ketten – das Geld, das man ausgibt, soll ja im Land und bei dessen Bevölkerung bleiben.
Wasser und Strom sparen, keinen Müll herumliegen lassen, etc. sind natürlich Dinge, die man auch in der Heimat tun sollte, die aber gerade in ärmeren Ländern eine wahnsinnig wichtige Rolle spielen. Die Beispiele, die ich gerade aufgelistet habe, sind auf den ersten Blick nur Kleinigkeiten, doch summiert haben sie eine massive Auswirkung auf soziale und auch ökologische Nachhaltigkeit.
Ich glaube, zum Thema „Reisen und Nachhaltigkeit“ kann ich mich nicht „ausschreiben“. Es gibt immer mehr zu sagen. Immer mehr zu tun. Nachhaltigkeit ist ein solch komplexes Thema, das handelt man nicht mal schnell in 2.000 Wörtern ab. Ich habe sehr viel über Nachhaltigkeit in Bezug auf meine Reise nachgedacht und hoffe, dass du meine Gedanken etwas nachvollziehen konntest. Ich möchte mich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, aber ich treffe sehr, sehr viele unterschiedliche Menschen auf meiner Reise. Und dabei fällt mir immer wieder auf: Es ist so schön zu sehen, wie offen die meisten Personen sind. Gäbe es eine solche Offenheit unter der Mehrheit der Menschen beispielsweise in Deutschland, hätten wir mit deutlich weniger gesellschaftlichen Problemen zu kämpfen. Ich sage nicht, dass Menschen, die nicht regelmäßig reisen, nicht offene und aufgeschlossene Persönlichkeiten haben können, auf keinen Fall. Für mich bedeutet Reisen Weltoffenheit, und davon braucht es mehr auf dieser Erde. Und ich glaube, dass Reisen so vielen Menschen dabei helfen kann, festgefahrene Meinungen oder Standpunkte doch mal zu überdenken und infrage zu stellen. Das habe ich auch bei mir selbst in den vergangenen Monaten feststellen können.
Waikiki Beach, Hawai'i
Um den Kreis zu schließen, beende ich diesen Beitrag mit meinem anderen Lieblingszitat: „Die gefährlichste Weltanschauung ist die Weltanschauung derer, die die Welt nicht angeschaut haben.” (Alexander von Humboldt). Und diesem Satz möchte ich gar nicht mehr hinzufügen, denn er bringt meine zuvor beschriebenen Gedanken perfekt auf den Punkt.
Alles Genannte sind Gründe, weshalb ich meine Langstreckenflüge für mich persönlich verantworten kann. Das heißt nicht, dass du das genauso sehen musst, aber mir ist es wichtig, meine Gedanken zu dieser Thematik geteilt zu haben.
Pfälzer Mädel Annerschtwo
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