Toronto - meine Stadt der Freiheit

10/13/2021

Sommer 2018 – ich steige aus dem Flieger, habe keinerlei Erwartungen an meine Zeit in Toronto, Ontario. Es ist das erste Mal für mich in Kanada und meine Gedanken drehen sich nur darum, ob ich eine nette Gastfamilie bekomme. Toronto ist die erste nordamerikanische Stadt, die ich kennenlernen darf. Bisher, ich bin ehrlich, haben mich Städte nicht sehr begeistert. Das liegt vermutlich genau daran, dass ich noch nie richtig in eine Stadt eingetaucht bin und noch nie die Atmosphäre spüren konnte.

Toronto Island Kanada Annerschtwo
Toronto Island Kanada Annerschtwo

Doch schon bei der die Autofahrt zu meiner Gastfamilie bin ich ans Fenster gefesselt. Von dem weiter entfernteren Highway sichte ich Teile der Skyline und realisiere erst jetzt, dass ich in Kanada angekommen bin. Und dann lerne ich endlich meine Gastfamilie kennen. Hätte mir vorher jemand gesagt, dass ich mit ihnen jahrelang Kontakt halten würde, hätte ich das vermutlich nicht geglaubt. Schließlich hört man ja auch des Öfteren von negativen Erfahrungen mit Gastfamilien. Doch bei mir ist es anders. Ich fühle mich wie zuhause, sie empfangen mich mit offenen Armen.

Am nächsten Tag, meinem ersten Unterrichtstag, fahre ich zum ersten Mal nach Toronto- Downtown. Circa eineinhalb Stunden Bus und U-Bahn später laufe ich die Treppen der Kings-Station hoch und mir offenbart sich das Bankenviertel. Ich weiß gar nicht, wo ich hinschauen soll. Die beeindruckende Architektur? Die vielen Menschen? So viele Eindrücke auf einmal, die ich erstmal ordnen möchte. Doch schnell merke ich, dass ich gar nichts sortieren muss. Dass ich solch eine überwältigende Atmosphäre, die ich auf diese Art noch nie zuvor erfahren habe, nicht geordnet bekommen kann.

Doch versteh mich nicht falsch, diese Überwältigung erdrückt mich nicht, im Gegenteil, sie lässt mich Leichtigkeit und Freiheit spüren. Ich kann nicht in Worte fassen, wie ich mich fühle. Aber ja, Freiheit trifft es wohl am besten. Freiheit in den unterschiedlichsten Formen. Es ist das Freieitsgefühl, das in mir aufkommt, wenn ich vom CN Tower hinunter auf Toronto blicke. Es ist dieser Blick der Grenzenlosigkeit, der sich durch den Lake Ontario ergibt. Man meint, er sei kein See, sondern tatsächlich Ozean.

Aber es ist auch das Gefühl, selbst frei zu sein. Frei als Mensch. Es wirkt komisch, aber das fühle ich, wenn ich mich in der U-Bahn hinsetze und um mich schaue. Ich sehe die verschiedensten Menschen. Und das Schöne daran: ich könnte nicht sagen, wer der Tourist unter ihnen ist. Wer auf Geschäftsreise ist. Wer wirklich in Toronto geboren wurde oder einen kanadischen Pass besitzt. Wer vielleicht erst vor ein paar Jahren oder gar Tagen immigriert ist. Es ist das erste Mal für mich, dass ich das Gefühl habe, das Äußere einer Person spielt keine Rolle. Jeder sitzt gemeinsam in der gleichen U-Bahn. Menschen unterschiedlichen Alters, unterschiedlichen Geschlechts, unterschiedlicher Hautfarbe, unterschiedlicher Religion, unterschiedlicher Gesellschaftsschicht.

Toronto Island Skyline Kanada Annerschtwo
Toronto Island Skyline Kanada Annerschtwo

Der Blick von Toronto Island auf die Skyline bei Nacht

Und nicht nur ich mache diese Erfahrung: Im Zusammenhang mit Toronto fallen oft Worte wie „multikulturell“. Doch ließt man das nicht bei den meisten Großstädten? Ja, und das zurecht. In fast jeder Stadt kommen Menschen aus der ganzen Welt zusammen. Das Bild aus der U-Bahn ist definitiv keine Besonderheit. Es ist der Alltag in jeder nordamerikanischen Großstadt. Doch was auch Alltag in diesen Städten ist, ist das Urteilen. Das Vorurteilen über einen Mensch, ohne diesen überhaupt zu kennen. Es sind Blicke, die für sich sprechen. Und das habe ich Toronto nicht gesehen. Genau das macht Toronto für mich besonders. Die Multikulturalität zusammen mit der Toleranz, die diese Stadt ausstrahlt.

Ich will mich hier nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Das sind nur meine Erfahrungen, die ich als 15/16 jähriges deutsches Mädchen mache. Nur weil ich es nicht wahrnehme, bedeutet das nicht, dass hier kein Rassismus oder andere Arten von Diskriminierung existieren. Das können nur betroffene Menschen beurteilen.

Ich kann nur sagen, dass Toronto für mein Empfinden eine Atmosphäre schafft, die zumindest mir das Gefühl gibt, der Mensch sein zu können, der ich auch sein möchte, ohne nur auf das Äußere reduziert zu werden. Das Gefühl, dich als Mensch entfalten zu können, egal wie lange man schon hier lebt oder welche Sprache man spricht. Toronto ist bis heute der Ort, an dem ich Akzeptanz und Toleranz am schönsten und intensivsten erlebt habe.

Doch wie kommt es dazu? Was macht Toronto anders? Fakt ist, mehr als die Hälfte aller Menschen, die in Toronto leben, sind außerhalb Kanadas geboren. Das heißt, es kann gar keine große Polarisierung von Mehr- oder Minderheiten in der Gesellschaft entstehen, weil die aller meisten Menschen selbst zugewandert sind. Dadurch, dass so viele Menschen gar nicht dort geboren sind, wären auch nur die wenigstens in einer Position über diejenigen zu urteilen, die aus Europa, Asien oder Afrika stammen. Um das vereinfacht zu sagen: In Toronto kommt die Welt zusammen, es gibt nicht „die eine“ Lebensweise (okay außer die Leidenschaft für Tim Hortons, die teilen vermutlich alle Torontonians). Aus diesem Grund kann sich auch keine Minderheit von der Mehrheit unterscheiden. Jeder ist anders, und das ist auch gut so.

Und das strahlt diese Stadt für mich aus: Die Freiheit, „Ich“ sein zu können, ohne dafür verurteilt zu werden.